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Old Kid on the Blog

14
Ap
93 Jahre
14.04.2025 22:23

So alt wäre mein Vater geworden. Das war ihm nicht vergönnt, vor fast 25 Jahren ist er an den Folgen eines Schlaganfalls verstorben.

Den ersten Urlaubstag hatte ich mir etwas anders vorgestellt. Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht einschlafen, erst irgendwann nach 3:00 Uhr fand ich meine Ruhe. Eigentlich hatte ich für den Tag etwas geplant, das musste auf morgen verschoben werden. So richtig in Schwung kam ich den ganzen Tag nicht, dafür werde ich heute Nacht sicher gut und viel schlafen. Immerhin meine Einkäufe habe ich erledigt, damit ich am Abend wenigstens ein paar Nürnberger Bratwürste essen konnte.

 

In seinen letzten Jahren besserte er seine Rente mit Gelegenheitsjobs bei diversen Schaustellerbetrieben auf. So hatte er auf dem Volksfestplatz sehr viele Freunde und Bekannte, was mir in jungen Jahren auch zu einigen Freifahrten verholfen hat. Am Bratwurstgrill standen wir eine zeitlang sogar zusammen. Ich am Grillen, er für den Verkauf zuständig.

Mitten in Nürnberg, in der Kaiserstraße, steht das ganze Jahr über eine Imbissbude. Alle zwei Wochen darf ein anderer Schaustellerbetrieb diese betreiben und mein alter Herr kannte sie fast alle. Wenn mal Jemand ausfiel, bin ich sogar eingesprungen, zwischen 1995 und 1997. Mit der Schule war ich fertig, einen Ausbildungsplatz hatte ich aber trotz über 100 Bewerbungen nicht gefunden. Erst als ich schreiben konnte wann der Zivildienst enden würde, sollte es auch mit der Ausbildung klappen.

Wirklich begeistert war mein Vater nicht davon, dass ich dem Vaterland nicht dienen wollte. Ich hätte doch da auch den Führerschein machen können und das wäre ihm sicher auch zugute gekommen.

Auch mit meinem "Erfolg" beim schönen Geschlecht war er ganz und gar nicht zufrieden. Er hatte damit nie ein Problem und konnte mit seinen Fähigkeiten und Talenten als Tänzer doch auch seine Tina finden.

Auf seine Art und Weise wollte er helfen, doch seine gute Absicht löste bei den jungen Damen eher "cringe" aus, als irgendwelches Interesse an mir. Bis heute habe ich es ja nur zu einer einzigen Beziehung geschafft und selbst diese hat nur 11 Monate gehalten. Da wird auch nichts mehr passieren, aus vielen verschiedenen Gründen.

Ganz so glücklich war die Ehe nicht, doch er bewahrte immer den Schein nach außen hin. Es sollte zumindest so aussehen. Da sind wir sehr unterschiedlich. Selbst wenn ich mich verstellen wollte, mir sieht man immer an wie es mir geht. Mir ist es komplett egal, was andere Leute von mir denken. Durch die Meinung anderer Menschen lasse ich mich nicht in meiner persönlichen Freiheit einschränken. Klar, in seiner Generation war das noch ganz anders. Da war es wichtig, sich anzupassen und dazuzugehören. Es war klar definiert, was ein echter Mann ist und wie er zu sein hat.

Heutzutage hängt in meinem Flur die Flagge der LGBTQIA+ Community. Damit könnte er nichts anfangen. Seit fast 20 Jahren bin ich dem Tanzstudio Schlegl treu und hatte viele verschiedene Tanzpartnerinnen. Mehr als Tanzpartner war ich aber für keine von ihnen. Da hätte er nichts anbrennen lassen oder zumindest genau das behauptet.

Ich war nie so wie er oder wie er mich haben wollte. Als ich dann auch noch anfing im Rock rumzulaufen war es ganz und gar vorbei. Ein Wunschkind war ich nicht und nun auch noch das.

Dabei hatte mein Vater durchaus auch seine modischen Besonderheiten. Egal zu welchem Anlass, in den letzten Jahren trug er immer einen schwarzen Cowboy-Hut. Kein komplettes Outfit, aber der Hut musste sein. Da hat bestimmt auch mancher Passant zweimal hingeschaut und sich seinen Teil gedacht.

Eine meiner ältesten Kindheitserinnerungen ist das Schauen von Westernfilmen zusammen mit meinem Vater. Wenn der Cowboy in den Saloon kam und ein Glas Whiskey getrunken hat, goss mein Vater mir ein wenig Eistee in eine Whiskeyglas und wir stürzten das gemeinsam. Daher weiß ich auch wer John Wayne ist und die "Western von gestern" kenne ich auch noch. Später im Leben schloss er mit seinem Cowboy-Hut also den Kreis.

Genau wie Cowboy, vielleicht so ein richtig männlicher aus der Marlboro-Werbung, hat er leider auch viel zu viel geraucht. Seiner Gesundheit tat das natürlich nicht gut und man kann sich vorstellen welch dicke Luft manchmal bei uns im Wohnzimmer war. Zwei Schachteln Zigaretten am Tag waren keine Seltenheit. Über die Gesundheitsrisiken von Passiv-Rauchern habe ich mich bisher noch nie informiert, es wird wohl auch besser so sein.

Oft stand ich bei ihm in der Kritik, doch das leuchtende Vorbild war er selbst auch nicht. Damals hätten wir beide es wohl mit vielen Worten abgestritten, heute muss ich zugeben, dass wir uns doch in einigen Dingen sehr ähnlich sind.

Meine Gesundheit ist auch mir nicht allzu wichtig. Seine Sucht war das Rauchen, meine ist der Zucker. Die Risiken sind bekannt, doch aufhören ist dennoch keine Option. Genau wie er, will auch ich nicht unbedingt sehr alt werden. Mir ist es da wichtiger, im Leben auf nichts zu verzichten was ich will.

Genau wie er, muss auch ich auf vieles verzichten, was für die meisten Menschen völlig normal ist. Da halte ich dann umso mehr an den kleinen Sünden fest. Mein Vater wurde früh berufsunfähig und konnte von der Rente allein nicht leben. Jedes Jahr bekomme ich den Brief, wie hoch meine Rente mal sein wird. Davon kann ich auch nicht leben. Mein damaliger Hausarzt diagnostizierte mir zum 30. Geburtstag, dass ich die 50 nicht erleben würde. Das wäre für mich auch in Ordnung.

Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass wir beide Lügner sind. Wir lügen, damit sich die Menschen, die einem wichtig sind, keine Sorgen machen müssen. Inzwischen will ja ohnehin keiner mehr wissen wie es einem wirklich geht. Man fragt nur noch aus Höflichkeit.

Ich zocke Videospiele, er zockte am Geldspielautomaten, wenn er sich das leisten konnte. Tatsächlich hatte er eine Art System, das ihn deutlich öfter gewinnen als verlieren ließ.

Inzwischen bin ich so alt wie er es war, als er erfuhr, dass eine Tina mit mir schwanger ist. Wir würden uns heutzutage viel besser verstehen, auch weil von meiner Seite viel mehr Verständnis für seine Situation vorhanden ist. Das konnte ich damals noch nicht bieten. Das große Vater-Sohn-Gespräch hat nie stattgefunden. Ihm fiel es sicher schwer, bestimmte Themen offen anzusprechen und mir fehlte das Vertrauen, dass er mich verstehen würde.

Eines Tages werden wir uns wiedersehen, auf der anderen Seite. Dann wird sich alles klären lassen.

Ein weiterer Punkt, warum die andere Seite für mich gar nicht so unattraktiv geworden ist.

Doppelgänger
Ein teurer Tag

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