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Das Wiedersehen

Bevor Du dieses Kapitel liest, empfehle ich Dir, nochmal das Kapitel "Julia" zu lesen. So zur Auffrischung. Hier klicken


Als ich meine erste und einzige Liebe, Julia, im Jahr 2000 im Krankenhaus in Erlangen besuchte, ging ich davon aus, dass es das letzte Treffen mit ihr wäre.
Ich lag falsch.

Im Jahr 2016 hatte ich in einem Kollegen auch einen Freund gefunden mit dem ich regelmäßig zum Mittagessen ging und bis heute gehe. Ralf. Wir sind beide begeisterte Zocker, er am PC und ich an den diversen Konsolen. Er ist glücklich verheiratet und ich Dauersingle. Wir tauschen uns immer wieder über unsere unterschiedlichen Lebensstile und gemeinsame Interessen aus. Natürlich erzählte ich ihm auch von meiner ersten und einzigen Liebe, Julia. Im folgenden Jahr hätte unsere Liebesgeschichte ihr 20jähriges Jubiläum. Wie es ihr wohl geht? Was sie wohl jetzt macht? Diese Fragen ließen mich einfach nicht los. Nur zu gerne hätte ich sie noch einmal wiedergesehen, noch einmal ihre Stimme gehört.

Mein erster Anlaufpakt waren die sozialen Netzwerke, doch ich fand sie einfach nicht. Vielleicht hatte sie ja geheiratet und ihren Nachnamen geändert. Dann hätte ich kaum eine Chance. An einem Samstag spazierte ich mehrere Stunden durch Herzogenaurach, wo sie und ihre Familie damals wohnten. Der Zufall wollte aber nicht nachhelfen, sie lief mir nicht über den Weg. Selbst bei ihrem ehemaligen Ausbildungsbetrieb schaute ich vorbei, doch auch da hatte ich keinen Erfolg. Eine Möglichkeit gäbe es noch, die war so wenig erfolgsversprechend, dass ich sie von Beginn an ausschloss. Ich könnte ja ihre Familie kontaktieren und um einen kleinen Gefallen bitten. Da ich aber schon während meiner Zeit mit Julia bei ihnen in Ungnade gefallen bin, sah ich da nicht den Hauch einer Chance.

Ich erzählte Ralf davon. Er ermutigte mich dann, genau diesen Schritt zu gehen. Widersprüche und Einwände ließ er gar nicht erst zu, immer wieder beharrte er darauf dass ich es versuche. Was könne schon geschehen? Im schlimmsten Fall bekomme ich keine oder eine negative Antwort. Dann hätte ich es aber wenigstens versucht. In den folgenden Tagen fragte er immer wieder nach, ob ich den Kontakt denn schon aufgenommen hätte. Noch immer war ich nicht davon überzeugt dass es was bringen würde, doch ich machte mich an die Arbeit und schrieb zwei Briefe. Der erste Brief war an die Familie gerichtet und am PC geschrieben. Der zweite Brief war an Julia selbst gerichtet und von Hand geschrieben. Es brauchte mehrere Entwürfe bis ich endlich zufrieden war.

Es war bereits 2017 geworden als ich Ralf endlich berichten konnte, dass ich die Briefe eingeworfen habe. Nun musste ich warten, obwohl ich sicher war, dass ich keine Antwort bekommen würde.

Die ganze Angelegenheit brachte mich auf einen anhaltenden Nostalgie-Trip, ich wollte so weit wie möglich zurück ins Jahr 1997. Mit den Snacks, den Spielen und der Musik von damals war das nicht besonders schwer. Selbst alte Radioshows aus dieser Zeit hatte ich noch auf Kassette. Etwas fehlte aber trotzdem noch.

Zu meinem Geburtstag schenkte mir Julia damals ein Parfum. "Universo" von Coty. Damals nichts besonderes, das gab es für ein paar Mark in so gut wie jeder Drogerie. Google verriet mir dann aber, dass die Herstellung 1999 eingestellt wurde. Selbst Amazon konnte weltweit keine Bestände mehr auffinden. Bei eBay wurde ich aber fündig. Natürlich habe ich keine Ahnung wie der Anbieter an ein Parfüm kam, dass seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr produziert wird, doch das sollte mir egal sein. Ich befürchtete schon einen Fake, klickte aber dennoch auf "Sofort kaufen" und holte mir alle Bestände.

Es dauerte keine zwei Wochen bis das Paket da war. Die Packung war schonmal die gleiche wie damals. Als ich das kleine Fläschchen dann öffnete war es um mich geschehen. Kein Fake, es war tatsächlich genau der Duft von damals. Ich war wieder im Jahr 1997. Schon erstaunlich, dass das im Jahr 2017 möglich war. Was wäre wohl sonst noch möglich?

Kurz nach dem Paket mit dem Duftwasser kam auch der Brief von einem bekannten Absender. Julias Vater hatte mir tatsächlich zurückgeschrieben. Stundenlang ließ ich den Brief verschlossen. Obwohl ich unglaublich neugierig war, hatte ich doch Angst vor einer negativen Antwort. Ich versuchte mich abzulenken, doch es war einfach nicht möglich. Irgendwann siegte die Neugier und ich öffnete den Brief. Was meine Augen da lasen war unglaublich und mir liefen schon bald die Tränen runter.

Oft hatte ich mir vorgestellt wie es Julia wohl geht. In meinen Visionen hatte sie ein schönes Zuhause, einen Job den sie liebt und einen liebevollen Partner der sie immer gut behandelt. Vielleicht sogar schon Kinder. Leider war ihr all das vom Schicksal nicht vergönnt. Ins Detail will ich gar nicht gehen, doch sie erlitt einen schweren Schicksalsschlag im Jahr 2003 und war in einer Art Wachkoma, körperlich komplett gelähmt, unfähig sich zu bewegen oder zu sprechen. Ich war schockiert. Das hatte sie doch nicht verdient.

Erstmal musste ich eine Pause einlegen um mich wieder zu sammeln. Dann las ich weiter. Zwei Fähigkeiten hatte sie behalten. Sie konnte ihre Augen bewegen und immer noch lächeln. Nicht als unkontrollierten Reflex, sondern gewollt. Als ich das las konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Das passte so zu ihr, genau so hatte ich sie in Erinnerung. Optimistisch ohne Grenzen. Nun war meine Mission klar: Einmal wollte ich sie noch lächeln sehen und für dieses Lächeln verantwortlich sein.

Ihr Vater hatte mir davon abgeraten, ich solle doch das Bild von ihr im Gedächtnis behalten, so wie sie damals war. Das war für mich keine Option.

Ich schrieb ihm zurück und nahm sein Angebot, ein Treffen zu arrangieren, an. Sogar telefonisch fragte er nochmal nach ob ich denn wirklich sicher sei. Das war ich, ohne jeden Zweifel.

Von da an ging alles so rasend schnell. Keine sechs Wochen später sollte das Treffen stattfinden. Es war der 29.03.2017, um 10:30 Uhr am Tiergarten Nürnberg. Wir, Julia, ihr Vater und ich, würden gemeinsam eine Runde durch den Tiergarten drehen. Das Wetter spielte mit und ich war mehr als pünktlich vor Ort. Unser gemeinsames Foto von damals, ein 20 Jahre altes Polaroid, ließ ich aufwerten und auf ein Kissen drucken. Außerdem duftete ich nach Universo. Vielleicht würde sie diesen Duft ja auch wieder erkennen. Die Nacht zuvor hatte ich kaum geschlafen und sicher war mein Herzschlag mehr als kritisch, je näher die Uhr an 10:30 kam.

Mit etwas Verspätung fuhr der Krankentransport am Portal vor. Julias Vater und der Fahrer stiegen aus, öffneten die hinteren Türen des Fahrzeuges, fuhren die Rampe aus und einen Rollstuhl heraus. Julia wurde in diesem Rollstuhl mobilisiert. Mit pochendem Herzen ging auf sie zu. Sie sah natürlich anders aus als in meiner Erinnerung, doch ich erkannte sie sofort wieder. Ihre wunderschönen blau-grünen Augen faszinierten mich sofort wieder. Ich kniete nieder, ganz nah bei ihr. Sie sollte den Duft Universo riechen. Außerdem zeigte ich ihr das Kissen mit unserem Foto darauf. Das wurde auch gleich für zusätzlichen Komfort genutzt. Ihr Vater würde uns begleiten und erklärte kurz die Spielregeln. Julia konnte mit ihren Augen signalisieren ob sie an einer Person interessiert war oder nicht. Wenn nicht, würde sie konsequent von dieser Person wegsehen. Das tat sie bei mir nicht. Der Vater erklärte weiterhin, dass er das Treffen abbrechen würde, wenn er merkt dass es Julia zuviel würde. Damit war ich natürlich einverstanden.

Wir zogen also gemeinsam los und schoben den Rollstuhl. Immer wieder erzählte ich Julia etwas aus meinem Leben und legte meine Hand auf ihre Schulter. Ihr Vater, 1997 mir nicht wohlgesonnen, war an diesem Tag sehr versöhnlich. Er spürte wie sehr sich Julia auf dieses Treffen gefreut hat und wie gut es ihr in diesem Moment gehen würde. Irgendwann legten wir einen kleinen Stop ein. Ich setzte mich auf eine Bank, der Rollstuhl wurde mir gegenüber geparkt. Der Vater hatte ganz plötzlich ein wichtiges Telefonat zu führen und nahm ein paar Meter Abstand. Damit hatte ich nun so gar nicht gerechnet, nun hatte ich plötzlich einen ganz privaten Moment mit ihr. Wir sahen uns tief in die Augen. Sie sah nicht weg.

Ich erzählte ihr aus meinem Leben, dass ich noch immer den Job habe den mir die von ihr geschriebene Bewerbung brachte und dass ich nach ihr keine weitere Beziehung mehr hatte. Ihr Blick änderte sich etwas, das bemerkte sogar ich. Doch sie sah noch immer nicht weg. Nervös rückte ich etwas näher und sprach sie an, mit dem Kosenamen den ich ihr 1997 gab. Sie lächelte. Es war ihr wunderschönes Lächeln. Ich lächelte mit ihr, Tränen in den Augen. Für mich war es der Beweis. Sie hatte mich nicht vergessen, sie konnte sich noch an mich und unsere gemeinsame Zeit erinnern. Julia war meine erste Liebe und ich ihre. Auch wenn man durch Krankheit viel verliert, so scheint diese Erinnerung doch enorm stark zu sein. Die Zeit schien stillzustehen, die ganze Welt schien angehalten. Hier waren wir, ganz im Moment, lächelten uns an und brauchten keine Worte mehr. Wir verständigten uns anderweitig.

Die Zeit verflog danach wie im Fluge. Es gab aber noch einen schönen Moment. Im Tiergarten gibt es einen ziemlich steilen Weg. Da einen Rollstuhl hochzuschieben ist schon ein Kraftakt. Julias Vater und ich arbeiteten zusammen und schafften es nach oben. In genau diesem Moment hatte Julia das breiteste Lächeln im Gesicht. Sie erinnerte sich bestimmt an all die Streitigkeiten mit ihrem Vater meinetwegen. Da war es ein wunderschöner, versöhnlicher Moment als wir uns gemeinsam für sie ins Zeug legten.

Das Treffen endete und ich war auf Wolke 7. Ich versuchte auch danach noch den Kontakt zu halten, doch es war mir nicht vergönnt. Bei diesem einen Treffen sollte es bleiben.

Am 30.03.2021 verstarb Julia. Sie wurde nur 41 Jahre jung.

Ein Nachruf in Briefform.

Liebe Julia,

dieser Brief kann nur damit beginnen, dass ich mich bei Dir bedanke.

Danke, für unsere gemeinsame Zeit und all die schönen Erinnerungen.
Danke, für Deine Liebe und Unterstützung.
Danke, dass Du zu mir gehalten hast, obwohl Dir das Leben deswegen schwer gemacht wurde.
Danke, dass Du mich auch nach 20 Jahren nicht vergessen hast.
Danke, für Dein letztes Lächeln.

Unsere gemeinsame Zeit werde ich immer in Erinnerung behalten. Das ist nicht nur Sache des Gehirns, sondern auch des Herzens. Unser letztes Treffen hat mir so unendlich gut getan. Ich war nicht immer optimistisch in meinem Leben, doch nun gibt es keinen Zweifel mehr. Zumindest im Leben einer Person war ich sehr wichtig. In Deinem. Du hast mich nicht vergessen, so wie ich Dich nicht vergessen habe.

Das Schicksal hat es leider nicht gut mit Dir gemeint, doch auch der schwerste Schlag konnte Dir Dein Lächeln nicht nehmen. Dein früher Tod hat alle schwer getroffen, deren Leben Du beeinflusst hast. Für Dich war es eine Befreiung. Du konntest die Krankheit nun hinter Dir lassen und genießt eine Freiheit, von der wir alle keine Ahnung haben.

In meinen Erinnerungen, in meinem Herzen wirst Du immer weiter leben.

Du wirst nie vergessen und ich werde wohl nie ganz aufhören Dich zu lieben.

Bestimmt sehen wir uns wieder. Unsere Seelen werden wieder zueinander finden. Auf der anderen Seite. Dort wo Nichts und Niemand zwischen uns stehen kann.
Ich freue mich darauf.

Dein Ben


An dieser Stelle will ich es nochmal betonen. Julia hat durch einen Schicksalsschlag völlig die Kontrolle über ihren Körper verloren. Nur eines konnte ihr nicht genommen werden, ihr Lächeln. Trotz ihrer Situation konnte sie noch Freude empfinden.

Daran sollten wir alle denken, bevor wir uns das nächste Mal über irgendetwas beschweren.


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